LG Kempten, Endurteil v. 16.11.2016 – 53 S 740/16
Leitsätze:
1. Bei der Nebenkostenabrechnung
erstreckt sich das Einsichtsrecht des Mieters im Rahmen der
Belegeinsicht (§ 259 BGB) grundsätzlich auf die Originalunterlagen. Ein
Anspruch auf Einsicht in die Originalunterlagen besteht auch dann, wenn
der Mieter aufgrund der großen Entfernung zwischen Sitz des Vermieters
und dem Ort der Mietsache die Vorlage der Unterlagen am Mietobjekt
verlangen kann. (amtlicher Leitsatz)
2. Rechtsfolge, die die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts (§ 273 Abs. 1 BGB) im Falle der Verweigerung der
ordnungsgemäßen Belegeinsicht nach sich zieht, ist, dass das
Zahlungsverlangen des Vermieters unter dem Gesichtspunkt der
unzulässigen Rechtsausübung als ein Verstoß gegen Treu und Glauben ( §
242 BGB) zu werten ist, mit der Folge, dass eine Zug- um
Zug-Verurteilung, wie sie in § 274 BGB für die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts vorgesehen ist, ausscheidet und die Fälligkeit
des Nachzahlungsanspruchs verneint wird. (amtlicher Leitsatz)
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das
Urteil des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 06.04.2016 (Az.: 3 C 133/16)
abgeändert wie folgt:
1. Es wird festgestellt, dass sich der Rechtsstreit in Höhe von 395,00 € erledigt hat.
2. Der Vollstreckungsbescheid des AG Hünfeld vom 16.11.2015, Az: 15-57963113 wird aufgehoben.
Die Klage wird als zur Zeit nicht fällig abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits I. Instanz tragen die Klägerin 80%, die Beklagte 20%.
4. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
A. Gemäß § 540 Abs. 2 i. V. m. § 313 a
Abs. 1 Satz 1 ZPO und § 544 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EG ZPO wird von der
Darstellung der tatsächlichen Feststellungen abgesehen.
I.
B. Das zulässige Rechtsmittel der Beklagten ist in der Sache erfolgreich.
1. Die Berufung der Beklagten ist
zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet
worden §§ 517, 519, 520 ZPO.
2. Das Rechtsmittel ist auch begründet, da das Urteil insoweit abzuändern war, als die Klage mangels Fälligkeit abzuweisen ist.
a) Zunächst ist der Beklagtenseite darin
Recht zu geben, dass -anders vom Erstgericht dargelegt sich im Rahmen
der Belegeinsicht (§ 259 BGB) das Einsichtsrecht des Mieters
grundsätzlich auf die Originalunterlagen erstreckt.
Dies entspricht der ständigen
Rechtsprechung der Kammer (Az.: 53 S 1558/11, Aktenzeichen 53 S 1668/11,
Az.: 53 S 1740/11, Az.: 53 S 2211/11) als auch der herrschenden Meinung
( Beck OK 2014, § 556 BGB Rdnr. 69 b, MüKo BGB, 7. Aufl. § 556 Rdnr.
87; Staudinger BGB 2014 § 556, Rdnr. 112; Palandt BGB, 75. Aufl. § 535
Rdnr. 97; LG Freiburg, NJW RR 2011,1096; OLG Düsseldorf GE 2001, 488; LG
Hamburg WuM 97, 500).
Ein Anspruch auf Einsicht in die
Originalunterlagen besteht auch dann, wenn der Mieter, wie vorliegend,
aufgrund der großen Entfernung zwischen Sitz des Vermieters und dem Ort
der Mietsache die Vorlage der Unterlagen am Mietobjekt verlangen kann
(MüKo BGB § 556 Rdnr. 88; Beck OK 2014 § 556 Rdnr. 69 d; Palandt BGB §
535 Rdnr. 97; LG Freiburg NJW RR 2011, 1096; LG Frankfurt NZN 2000, 27;
LG Hamburg WuM 2000, 197).
Auch in diesen Fall muss er sich grundsätzlich nicht auf die Vorlage von Kopien verweisen lassen.
b) Nachdem die Klägerin erstinstanzlich
weder bereit war Einsicht in die Originalbelege zu gewähren, noch die
Belege in der erforderlichen geordneten Form (vgl. Schmidt-Futterer
Mietrecht 2015 § 556 BGB Rdnr. 484; Blank/Börstinghaus § 556 BGB Rdnr.
187; Spielbauer Mietrecht § 556 BGB Rdnr. 495; LG Düsseldorf WuM 2002,
32) präsentiert wurden, war die Klage hinsichtlich der
Nebenkostennachforderung für das Jahr 2013 mangels Fälligkeit
abzuweisen.
Der Mieter kann gegenüber der
Nachforderung des Vermieters ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 273 Abs. 1
BGB geltend machen, solange der Vermieter ihm die Überprüfung nicht in
der gebotenen Weise ermöglicht (BGH vom 08.03.2006, VIII ZR 78/05).
Welche Rechtsfolgen die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts (§ 273 Abs. 1 BGB) im Falle der Verweigerung der
ordnungsgemäßen Belegeinsicht nach sich zieht, ist umstritten (zum
Meinungsstand vgl. Langenberg Betriebskosten- und Heizkostenrecht 2016,
Kapitel J Rdnr. 76 ff.; Beck OK § 556 BGB Rdnr. 70).
Die Kammer folgt der Rechtsmeinung,
wonach das Zahlungsverlangen des Vermieters unter dem Gesichtspunkt der
unzulässigen Rechtsausübung als ein Verstoß gegen Treu und Glauben ( §
242 BGB) zu werten ist, mit der Folge, dass eine Zug- um
Zug-Verurteilung, wie sie in § 274 BGB für die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts vorgesehen ist, ausscheidet und die Fälligkeit
des Nachzahlungsanspruchs verneint wird (KG Berlin GE 2012, 689; LG
Bremen WuM 2013, 488 ff.; LG Hannover ZMR 2010, 450; LG Düsseldorf vom
19.03.1998, Az.: 21 S 600/97; Langenberg Betriebskosten- und
Heizkostenrecht 2016, Kapitel J Rdnr. 77; Spielbauer Mietrecht § 556 BGB
Rdnr. 510 ff.; Beck OK § 556 BGB Rdnr. 70).
Dem liegt zugrunde, dass die Pflicht zur
Gewährung der Einsicht der Pflicht des Mieters im Nebenkostensaldo
auszugleichen vorgeht, so dass der Vermieter mit der Verweigerung der
Belegeinsicht eine vertragliche Nebenpflicht verletzt.
Im Falle einer Zug- um Zug-Verurteilung wäre der Mieter verpflichtet, nach Einsicht in die Belege die Nachforderung zu bezahlen.
Im Grunde hätte er daher sogleich nach
Einsicht und damit gegebenenfalls vor der Überprüfung des Ergebnisses
der Einsicht die Zahlung zu leisten.
Ein gewisser Ausweg für den Mieter wäre
die Zahlung unter dem Vorbehalt der weiteren Prüfung. Dieser Weg ist
indes nicht zufriedenstellend, weil er den Mieter dazu zwingen würde,
bei berechtigten Beanstandungen Klage auf Rückzahlung des gesamten oder
eines teils des Betrages zu erheben. Er käme damit in die Aktivrolle
eines Prozesses, den anzustrengen primär die Sache des Vermieters ist,
weil die Vorlage und Kontrolle der Belege sowie die Prüfung der neuen
Abrechnung der Pflicht zur Erfüllung des etwaigen Zahlungsanspruches
voran zu stellen ist (vgl. Langenberg Betriebskosten- und
Heizkostenrecht 2016 a. a. O.).
Der Vollstreckungsbescheid des AG Hünfeld
war folglich aufzuheben und die Klage in Höhe von 1.355,36 € als
derzeit unbegründet abzuweisen.
c) Soweit das Erstgericht ausgeurteilt
hat, dass festgestellt wird, dass sich der Rechtsstreit infolge der
einseitigen Erledigterklärung der Klägerin in Höhe von 395,00 € erledigt
hat, wurde die Entscheidung nicht angegriffen (§ 528 ZPO).
II.
Die Nebenentscheidungen haben ihre Grundlage in §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da
die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung
des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).